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Hinterm Horizont geht’s weiter…

Deutsche Industrieplanung und Nordseeschutz jenseits der 12 Seemeilen Grenze

Wenn der Sylter Rettungsschwimmer Steve auf den Windpark Butendiek blickt, der rund 35 km vom Kampener Strand entfernt steht, kann er sich noch gut an die Vibrationen erinnern, die er 2015 an seinem Rettungsstand spürte, als die 80 Windmühlen in den Meeresboden gerammt wurden. 

Butendiek ist der einzige Offshore Windpark, der von Sylt aus sichtbar ist. Er steht an der Grenze zum Unesco Nationalpark Wattenmeer/Walschutzgebiet, direkt in einem Vogel- und Naturschutzgebiet des Bundes.

Auch wenn manche Sylter immer noch innerlich zusammenzucken, wenn sie bei Sonnenuntergang auf die ästhetische Störung am einst makellosen Horizont blicken, haben sich wohl die meisten Insulaner und Gäste an den Anblick gewöhnt.

Man gewöhnt sich an alles- und was ich nicht weiß macht mich nicht heiss. 

Aber gilt das auch für unsere Tierwelt da draussen: die Seehunde, Kegelrobben, Schweinswale und Meeresvögel? Und würden nicht mehr Bürger besorgt um diese Tierarten sein, wenn ihnen bewusst wäre, was für eine gewaltige Industrieplanung da draussen ansteht und zum Teil bereits in vollem Gange ist?
Ja, wir müssen zügig das globale CO2-Problem in den Griff kriegen-aber ist es weise, alles auf eine „Wind-Karte“ zu setzen und damit die Artenvielfalt der Nordsee aufs Spiel zu setzen?

Butendiek ist nur die sichtbare Spitze eines immer grösser geplanten Netzes von Windparks in der deutschen Nordsee und  den Gewässern der Nachbarstaaten. Das Gebiet jenseits der 12 Seemeilen SH-Landesgrenze untersteht Bundesgesetzen und wird seit jeher als „Ausschliessliche Wirtschaftszone“ (AWZ) bezeichnet.

Ein Begriff der geprägt wurde, als selbst Experten noch glaubten, dass unser Hausmeer nichts weiter als ein  physikalischer Wasserkörper vor unserer Küste ist. Gut genug, um Chemieabfälle, Abwasser von Kommunen, Müll von Schiffen, überflüssiges Öl und anderen Unrat, wie zum Beispiel alte Munition und Sprengstoffe darin zu versenken. Natürlich auch bestens geeignet als Wasserstrasse für Tanker, Containerschiffe und als Fischereigrund, Rohstofflieferant für Öl, Gas und Kies sowie Testgebiet des Militärs.

Die Nordsee- von der Müllkippe zum  gut  erforschten Ökosystem

Inzwischen sind rund 50 Jahre vergangen, in denen das Bewusstsein für die Nordseenatur wuchs- der Begriff AWZ ist jedoch geblieben. Seit Mitte der 1980iger Jahre gab es zahlreiche internationale Nordseeschutzkonferenzen. Diese führten zu nationalen und internationalen Abkommen, die die Nordsee als Ökosystem mit allen darin befindlichen Lebewesen schützen sollen. 

Paradoxerweise erlebten Wissenschaft und Naturschutz einen besonderen Zuwachs an Informationen über die Artenvielfalt und  deren Bedürfnissen und Vernetzungen mit dem Aufkommen der Offshore-Windindustrie. Als diese um die Jahrtausendwende begann, erste Parks in bis zu 30 m tiefem Wasser zu planen, war der Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer gerade um das erste europäische Walschutzgebiet westlich von Sylt und Amrum erweitert worden und hielt so die Baumassnahmen auf weiten Abstand zur Küste. 

Ab 2001 waren bereits zahlreiche Offshore-Windparks weiter draussen in Planung und für jeden verlangte das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie eine  Umweltverträglichkeitsstudie. Die grossen Player der Windindustrie wie EON, RWE, EnBW, Vattenfall und viele andere Investoren mussten also ein Heer von Experten beauftragen, um ein genaues Bild der naturkundlichen und meeresökologischen Rahmenbedingungen festzustellen. 

Ökologen, Ozeanographen, Ornithologen, Meeresbiologen, Walforscher und Robbenexperten sorgen seitdem für eine Fülle von Daten und Erkenntnissen, die inzwischen nachgewiesen haben, dass die Nordsee vor unserer Haustür ein sensibles Netzwerk  vieler gesetzlich geschützter Arten und Biotope ist.

Inzwischen gibt es vermutlich wenige heimische Naturbereiche, die einem so intensiven Monitoring unterzogen werden, wie die  Deutsche Bucht. Mit Schiffen, Flugzeugen, Schalldetektoren, Messgeräten, Bodenrobotern, Infrarot Kameras, Sonaren  u.v.a.m. wird die offene Nordsee im Planungsgebiet der Windenergiefirmen minutiös untersucht. Nicht nur im Auftrag der Industrie selbst, sondern auch seitens der zuständigen deutschen Bundesämter, wissenschaftlichen Institute und Universitäten.

Inzwischen stehen hier 1.306 rund 130 m hohe Windmühlen, gebündelt in 24 Windparks. Einer davon, der besagte Butendiek, sogar in einem ausgewiesenen Vogel- und Naturschutzgebiet. Allein diese Menge führt bereits zu zahlreichen Konflikten mit den zu schützenden Artengruppen Wale, Robben, Seetaucher, Meeresenten und dem Ökosystem der südlichen Nordsee an sich, welches sich durch dynamische Schlick- und Sandböden sowie Sandriffbereiche auszeichnet und ausser dem roten Felsen von Helgoland bis zum Bau der Anlagen fast keine festen Substrate aufwies- und damit auch keine felsenähnlichen Strukturen an denen manövrierunfähige Containerschiffe und Tanker zerschellen könnten.

Wird der Nordseeschutz dem Klimaschutz zum Opfer fallen?

Nun aber, so schallt es ziemlich undifferenziert von nationalen Regierungsbänken, einschliesslich des Grünen Wirtschaftsministers, soll der eigentliche Bauboom da draussen hinter dem Horizont erst richtig losgehen. Und bei den anderen Nordseeanrainerstaaten genauso- wenn nicht noch intensiver.

Bis 2045 will allein Deutschland 70 GW Windstrom in der südlichen Nordsee und deutschen Ostsee erzeugen.Das wären bei heutigem Mühlenstandart rund weitere 14.000 Turbinen. Derzeit existieren rund 1.600 Mühlen in beiden Hausmeeren zusammen, die knapp 7.700 MW produzieren. Inzwischen ist in europäischen Planungspapieren sogar von einem 300 GW-Ausbau allein in der Nordsee die Rede. Das wird die Hausmeere für die kommenden 25 Jahre in eine lärmende Dauerbaustelle verwandeln und hörempfindliche Arten wie Robben und Schweinswale besonders hart treffen. Obwohl inzwischen wesentlich leisere Gründungen von Windmühlen möglich und marktreif sind, bleibt die Schwerindustrie bislang beim lautstarken Einhämmern der WKA-Fundamente. 

Die Naturschutzverbände der Nationalpark-Küste sind alarmiert: „Wir sind sehr besorgt, dass die notwendigen Rahmenbedingungen zum Schutz der Artenvielfalt, insbesondere von Meeressäugern und Seevögeln, angesichts des Krisenmodus auf der Strecke bleiben, wenn die Planung der Bundesregierung im Nordseeraum umgesetzt wird“, sagt Kim Detloff vom NABU-Deutschland. 

„Die im neuen Windenergie-auf-See-Gesetz fixierten 70 GW in der deutschen AWZ sind unseres Erachtens nicht annähernd naturverträglich darzustellen“, ergänzt der Biologe. „Die angedachten 300 GW  stellen für uns  sämtliche bisherigen staatlichen naturschutzpolitischen Ziele des Nordseeraumes in Frage. Vor dem Hintergrund, dass aktuell ein LNG-Terminal in den Ostsee-Nationalpark Jasmund bei Rügen genehmigt wurde, befürchten wir nun auch weitere Entwertungen der Meeresschutzgebiete in der Nordsee.“

Dabei steht schon jetzt ein Drittel der Arten in Nord- und Ostsee auf der Roten Liste und internationale Abkommen sowie europäische Richtlinien geben vor, was längst zu tun wäre. Aber statt die Meeresschutzgebiete wirkungsvoll vor Nutzungen zu schützen und optimal auszustatten, sollen nun Umweltstandards weiter aufgeweicht werden.  Wir sägen am eigenen Ast. Das aus dem Weg räumen des Naturschutzes zur Beschleunigung von erneuerbaren Energien wird für nachfolgende Generationen sehr teuer werden. Völlig ignoriert werden die Leistungen natürlicher Kohlenstoffsenken im Meer.

Naturschutzverbände und Wissenschaftler schlagen Alarm

Der NABU hat eine umfassende wissenschaftliche Studie in Auftrag gegeben die nach dem Ampel-Prinzip die Flächen der AWZ hinsichtlich der Naturverträglichkeit von Windparks bewertet. Mit viel „Bauchschmerzen“ bleibt bestenfalls ein  schmaler, grüner Streifen der AWZ zur Energieerzeugung übrig (s.Karte, Bericht). 

Die Studie verdeutlicht, dass die Vorstellung davon, dass am Reissbrett abgezirkelte Schutzgebietsgrenzen ausreichen, um die Populationen bedrohter Tierarten zu sichern eine falsche Hoffnung weckt. Vielmehr handelt es sich bei den Schutzgütern überwiegend um wandernde Arten, die unterschiedliche Aufenthaltsorte im Jahres- und Lebenszyklus nutzen und dazu barrierefreie, ungestörte  Wanderkorridore zwischen den von Ihnen benötigten Biotopen brauchen.

Auch die Meeres-Wissenschaftler schlagen Alarm angesichts des europaweit proklamierten Offshore-Windkraftbooms. Im September 2023 trafen sich rund 200 von Ihnen zu einer Konferenz in Stralsund, die vom Bundesamt für Naturschutz organisiert wurde. Deren Fazit wurde in 52 detaillierten Aktions-Punkten zusammengefasst, die helfen könnten, trotz eines weiteren, sanften Ausbaus der Windenergie, die Artenvielfalt in Nord-und Ostsee zu erhalten.

Das generelle Fazit lautet:

  • Mehr Meeresschutzgebiete ausweisen in denen die Biodiversitätsstrategie der EU wirklich Anwendung findet, wobei 30% der Fläche unter Schutz und 10 % unter strengem Schutz stehen sollte (Null-Nutzung).
  • nur einen naturverträglichen Ausbau der Windenergie genehmigen und
  • dringend die Effekte der Fischerei auf das Meeresökosystem vermindern, wie etwa umweltschädliche Fangmethoden wie Grundschleppnetze langfristig in besonders sensiblen Gebieten zu verbieten

Was ist zu tun? Wer macht es?

Wenn auch sehr spät, haben  Naturschützer und Meereswissenschaftler nun ausreichend detaillierte Vorschläge und Forderungen auf den Tisch gelegt, um den Ausbau der Windkraft auf See in Deutschland in naturverträgliche Bahnen zu lenken. Angesichts der des gewaltigen Zeitdrucks, der seitens der Politik und verschiedener Interessengruppen zum Thema Klimaschutz aufgebaut wird ist jedoch kaum damit zu rechnen, dass diese noch rechtzeitig und voll umfassend umgesetzt werden.
Dabei ist es einfach unklug  und alles andere als nachhaltig, die Klimakrise gegen die Biodiversitätskrise auszuspielen. 

Wer aber wird die Forderungen umsetzen? In der Politik sieht es in dieser Hinsicht magerer denn je aus, seit die Grünen sich zur Speerspitze des technologischen Klimaschutzes erklärt haben. Viele hoffen auf die Grüne Umweltministerin Steffi Lemke, die der Meeresnatur stets verbunden war und seit je her eine den Meeresschutz stärkende Position vertritt – aber wird sie sich gegen den Klima- & Wirtschaftsminister Habeck aus der eigenen Partei durchsetzen können?

Einladung zu neuem Denken: AWZ wird MWZ

Ein erster symbolischer Schritt könnte die Umbenennung der „Ausschliesslichen Wirtschaftszone (AWZ)“ in „Marine Wildnis Zone (MWZ)“ sein. Manchmal können so kleine verbale Veränderung ein grundsätzliches Umdenken initiieren. Und genau das ist wohl nötig um aus dem Dilemma Klimaschutz versus Naturschutz herauszukommen. Es braucht ein neues Denken, einen  grundsätzlichen Systemwechsel der zu Energieeinsparung und breiter, landesweiter Diversifizierung alternativer Energien führt. Weg von Gigantomanie an einem Ort hin zu kleineren Lösungen überall. Denn frei nach Einstein können Probleme bekanntlich nicht mittels derselben Denkweisen gelöst werden, die diese Probleme ursprünglich entstehen liessen.

NABU-kritisiert Offshore-Windkraftboom vor Sylt

NABU: Naturverträglicher Ausbau der Offshore-Windkraft in weiter Ferne
Bau von Butendiek wäre umweltpolitischer Sündenfall

Berlin – Der NABU kritisiert, dass beim Ausbau der Offshore-Windenergie die Naturverträglichkeit immer noch zu kurz kommt. 2002 wurde die Baugenehmigung des ehemaligen Bürgerwindparks Butendiek westlich von Sylt, dem ersten kommerziellen Windpark in der Nordsee, durch das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrografie (BSH) erteilt. Das bedeutete zehn Jahre Streit und Proteste der Umweltverbände, zehn Jahre wechselnde Besitzer und Verlängerungen der Baugenehmigung. „Und das, obwohl inzwischen anerkannt ist, dass dieser ökologisch kritische Standort nach heutigem Kenntnisstand schon 2002 nicht genehmigungsfähig war. Sollte Butendiek gebaut werden, wäre es der umweltpolitische Sündenfall“, sagte NABU-Präsident Olaf Tschimpke. Der Park liege in einem besonders wertvollen Lebensraum für Schweinswale und Seetaucher im Natura-2000-Gebiet Sylter Außenriff.

„Leider haben Politik und Genehmigungsbehörden in den vergangenen Jahren wenig gelernt. Seit Jahren gibt es einen Planungsboom. Gebiete werden abgesteckt, Bauanträge eingereicht und veraltete Genehmigungen immer wieder verlängert, ohne ausreichende Steuerung und ohne eine ernsthafte Betrachtung wachsender Umweltrisiken“, so Tschimpke weiter. Bundesregierung und Genehmigungsbehörden würden durch ihre Untätigkeit mit Verantwortung dafür tragen, dass ein naturverträglicher Ausbau der Offshore-Windkraft noch immer nicht gewährleistet sei. Wo bleibt das seit über einem Jahr angekündigte Schallschutzkonzept der Bunderegierung? Wie soll eine umfassende und nachhaltige Strategie für den Ausbau und die Netzanbindung der Offshore Windkraft aussehen? Wie viel Offshore-Windkraft braucht der deutsche Energiemix der Zukunft? Fragen, die Bundesregierung, Genehmigungsbehörden und Industrie nach NABU-Auffassung jetzt sehr schnell beantworten müssen.

Viele der bereits genehmigten Windparks stehen nach Einschätzung des NABU im Konflikt mit nationalem und europäischem Umweltrecht. Das reiche von unzureichendem Schallschutz bis zu einer fehlenden Berücksichtigung des Störungs- und Verschlechterungsverbotes für besonders geschützte Arten und Lebensräume nach Bundesnaturschutzgesetz und EU-Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie.

„Der Meeresnaturschutz bleibt noch immer auf der Strecke. So riskiert die Branche die bisherige Unterstützung der Umweltverbände für eine eigentlich grüne Energie“, so NABU-Referent für Meeresschutz Kim Detloff. Noch würden die Verbände den Ausbau der Windkraft auf See mittragen. Doch wenn Artenschutzrecht und Lebensraumschutz weiterhin ignoriert würden, bliebe für den Naturschutz nur der Rechtsweg.

Aktuell liegen für die deutsche Ausschließliche Wirtschaftszone der Nord- und Ostsee, dem Bereich zwischen zwölf und 200 Seemeilen von der Küste, 28 Genehmigungen vor. Insgesamt sollen in der deutschen Nord- und Ostsee mehr als 115 Windparks entstehen. Nach NABU-Meinung zu viele für die ohnehin stark belasteten Ökosysteme der Nord- und Ostsee.

Der NABU tritt seit Jahren für einen naturverträglichen Ausbau der Offshore-Windkraft ein. Neben einem verbesserten Schallschutz und schallarmen Gründungsverfahren fordert er dabei eine effektive räumliche und zeitliche Steuerung, die kritische Überprüfung und Bereinigung der Antragsflut sowie eine stärkere Berücksichtigung kumulativer Effekte, d.h. mögliche ökosystemare Auswirkungen durch die Vielzahl geplanter Projekte. Besonders sensible Gebiete wie das Sylter Außenriff seien dabei vollständig von Windkraftanlagen freizuhalten.

Für Rückfragen:
Dr. Kim Cornelius Detloff, NABU-Referent für Meeresschutz, Telefon 030-284984-1626, mobil 0152 0920 2205
Carsten Wachholz, NABU-Energieexperte, Tel. 030-284984-1617, mobil 0172-4179727