Hinterm Horizont geht’s weiter…

Deutsche Industrieplanung und Nordseeschutz jenseits der 12 Seemeilen Grenze

Wenn der Sylter Rettungsschwimmer Steve auf den Windpark Butendiek blickt, der rund 35 km vom Kampener Strand entfernt steht, kann er sich noch gut an die Vibrationen erinnern, die er 2015 an seinem Rettungsstand spürte, als die 80 Windmühlen in den Meeresboden gerammt wurden. 

Butendiek ist der einzige Offshore Windpark, der von Sylt aus sichtbar ist. Er steht an der Grenze zum Unesco Nationalpark Wattenmeer/Walschutzgebiet, direkt in einem Vogel- und Naturschutzgebiet des Bundes.

Auch wenn manche Sylter immer noch innerlich zusammenzucken, wenn sie bei Sonnenuntergang auf die ästhetische Störung am einst makellosen Horizont blicken, haben sich wohl die meisten Insulaner und Gäste an den Anblick gewöhnt.

Man gewöhnt sich an alles- und was ich nicht weiß macht mich nicht heiss. 

Aber gilt das auch für unsere Tierwelt da draussen: die Seehunde, Kegelrobben, Schweinswale und Meeresvögel? Und würden nicht mehr Bürger besorgt um diese Tierarten sein, wenn ihnen bewusst wäre, was für eine gewaltige Industrieplanung da draussen ansteht und zum Teil bereits in vollem Gange ist?
Ja, wir müssen zügig das globale CO2-Problem in den Griff kriegen-aber ist es weise, alles auf eine „Wind-Karte“ zu setzen und damit die Artenvielfalt der Nordsee aufs Spiel zu setzen?

Butendiek ist nur die sichtbare Spitze eines immer grösser geplanten Netzes von Windparks in der deutschen Nordsee und  den Gewässern der Nachbarstaaten. Das Gebiet jenseits der 12 Seemeilen SH-Landesgrenze untersteht Bundesgesetzen und wird seit jeher als „Ausschliessliche Wirtschaftszone“ (AWZ) bezeichnet.

Ein Begriff der geprägt wurde, als selbst Experten noch glaubten, dass unser Hausmeer nichts weiter als ein  physikalischer Wasserkörper vor unserer Küste ist. Gut genug, um Chemieabfälle, Abwasser von Kommunen, Müll von Schiffen, überflüssiges Öl und anderen Unrat, wie zum Beispiel alte Munition und Sprengstoffe darin zu versenken. Natürlich auch bestens geeignet als Wasserstrasse für Tanker, Containerschiffe und als Fischereigrund, Rohstofflieferant für Öl, Gas und Kies sowie Testgebiet des Militärs.

Die Nordsee- von der Müllkippe zum  gut  erforschten Ökosystem

Inzwischen sind rund 50 Jahre vergangen, in denen das Bewusstsein für die Nordseenatur wuchs- der Begriff AWZ ist jedoch geblieben. Seit Mitte der 1980iger Jahre gab es zahlreiche internationale Nordseeschutzkonferenzen. Diese führten zu nationalen und internationalen Abkommen, die die Nordsee als Ökosystem mit allen darin befindlichen Lebewesen schützen sollen. 

Paradoxerweise erlebten Wissenschaft und Naturschutz einen besonderen Zuwachs an Informationen über die Artenvielfalt und  deren Bedürfnissen und Vernetzungen mit dem Aufkommen der Offshore-Windindustrie. Als diese um die Jahrtausendwende begann, erste Parks in bis zu 30 m tiefem Wasser zu planen, war der Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer gerade um das erste europäische Walschutzgebiet westlich von Sylt und Amrum erweitert worden und hielt so die Baumassnahmen auf weiten Abstand zur Küste. 

Ab 2001 waren bereits zahlreiche Offshore-Windparks weiter draussen in Planung und für jeden verlangte das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie eine  Umweltverträglichkeitsstudie. Die grossen Player der Windindustrie wie EON, RWE, EnBW, Vattenfall und viele andere Investoren mussten also ein Heer von Experten beauftragen, um ein genaues Bild der naturkundlichen und meeresökologischen Rahmenbedingungen festzustellen. 

Ökologen, Ozeanographen, Ornithologen, Meeresbiologen, Walforscher und Robbenexperten sorgen seitdem für eine Fülle von Daten und Erkenntnissen, die inzwischen nachgewiesen haben, dass die Nordsee vor unserer Haustür ein sensibles Netzwerk  vieler gesetzlich geschützter Arten und Biotope ist.

Inzwischen gibt es vermutlich wenige heimische Naturbereiche, die einem so intensiven Monitoring unterzogen werden, wie die  Deutsche Bucht. Mit Schiffen, Flugzeugen, Schalldetektoren, Messgeräten, Bodenrobotern, Infrarot Kameras, Sonaren  u.v.a.m. wird die offene Nordsee im Planungsgebiet der Windenergiefirmen minutiös untersucht. Nicht nur im Auftrag der Industrie selbst, sondern auch seitens der zuständigen deutschen Bundesämter, wissenschaftlichen Institute und Universitäten.

Inzwischen stehen hier 1.306 rund 130 m hohe Windmühlen, gebündelt in 24 Windparks. Einer davon, der besagte Butendiek, sogar in einem ausgewiesenen Vogel- und Naturschutzgebiet. Allein diese Menge führt bereits zu zahlreichen Konflikten mit den zu schützenden Artengruppen Wale, Robben, Seetaucher, Meeresenten und dem Ökosystem der südlichen Nordsee an sich, welches sich durch dynamische Schlick- und Sandböden sowie Sandriffbereiche auszeichnet und ausser dem roten Felsen von Helgoland bis zum Bau der Anlagen fast keine festen Substrate aufwies- und damit auch keine felsenähnlichen Strukturen an denen manövrierunfähige Containerschiffe und Tanker zerschellen könnten.

Wird der Nordseeschutz dem Klimaschutz zum Opfer fallen?

Nun aber, so schallt es ziemlich undifferenziert von nationalen Regierungsbänken, einschliesslich des Grünen Wirtschaftsministers, soll der eigentliche Bauboom da draussen hinter dem Horizont erst richtig losgehen. Und bei den anderen Nordseeanrainerstaaten genauso- wenn nicht noch intensiver.

Bis 2045 will allein Deutschland 70 GW Windstrom in der südlichen Nordsee und deutschen Ostsee erzeugen.Das wären bei heutigem Mühlenstandart rund weitere 14.000 Turbinen. Derzeit existieren rund 1.600 Mühlen in beiden Hausmeeren zusammen, die knapp 7.700 MW produzieren. Inzwischen ist in europäischen Planungspapieren sogar von einem 300 GW-Ausbau allein in der Nordsee die Rede. Das wird die Hausmeere für die kommenden 25 Jahre in eine lärmende Dauerbaustelle verwandeln und hörempfindliche Arten wie Robben und Schweinswale besonders hart treffen. Obwohl inzwischen wesentlich leisere Gründungen von Windmühlen möglich und marktreif sind, bleibt die Schwerindustrie bislang beim lautstarken Einhämmern der WKA-Fundamente. 

Die Naturschutzverbände der Nationalpark-Küste sind alarmiert: „Wir sind sehr besorgt, dass die notwendigen Rahmenbedingungen zum Schutz der Artenvielfalt, insbesondere von Meeressäugern und Seevögeln, angesichts des Krisenmodus auf der Strecke bleiben, wenn die Planung der Bundesregierung im Nordseeraum umgesetzt wird“, sagt Kim Detloff vom NABU-Deutschland. 

„Die im neuen Windenergie-auf-See-Gesetz fixierten 70 GW in der deutschen AWZ sind unseres Erachtens nicht annähernd naturverträglich darzustellen“, ergänzt der Biologe. „Die angedachten 300 GW  stellen für uns  sämtliche bisherigen staatlichen naturschutzpolitischen Ziele des Nordseeraumes in Frage. Vor dem Hintergrund, dass aktuell ein LNG-Terminal in den Ostsee-Nationalpark Jasmund bei Rügen genehmigt wurde, befürchten wir nun auch weitere Entwertungen der Meeresschutzgebiete in der Nordsee.“

Dabei steht schon jetzt ein Drittel der Arten in Nord- und Ostsee auf der Roten Liste und internationale Abkommen sowie europäische Richtlinien geben vor, was längst zu tun wäre. Aber statt die Meeresschutzgebiete wirkungsvoll vor Nutzungen zu schützen und optimal auszustatten, sollen nun Umweltstandards weiter aufgeweicht werden.  Wir sägen am eigenen Ast. Das aus dem Weg räumen des Naturschutzes zur Beschleunigung von erneuerbaren Energien wird für nachfolgende Generationen sehr teuer werden. Völlig ignoriert werden die Leistungen natürlicher Kohlenstoffsenken im Meer.

Naturschutzverbände und Wissenschaftler schlagen Alarm

Der NABU hat eine umfassende wissenschaftliche Studie in Auftrag gegeben die nach dem Ampel-Prinzip die Flächen der AWZ hinsichtlich der Naturverträglichkeit von Windparks bewertet. Mit viel „Bauchschmerzen“ bleibt bestenfalls ein  schmaler, grüner Streifen der AWZ zur Energieerzeugung übrig (s.Karte, Bericht). 

Die Studie verdeutlicht, dass die Vorstellung davon, dass am Reissbrett abgezirkelte Schutzgebietsgrenzen ausreichen, um die Populationen bedrohter Tierarten zu sichern eine falsche Hoffnung weckt. Vielmehr handelt es sich bei den Schutzgütern überwiegend um wandernde Arten, die unterschiedliche Aufenthaltsorte im Jahres- und Lebenszyklus nutzen und dazu barrierefreie, ungestörte  Wanderkorridore zwischen den von Ihnen benötigten Biotopen brauchen.

Auch die Meeres-Wissenschaftler schlagen Alarm angesichts des europaweit proklamierten Offshore-Windkraftbooms. Im September 2023 trafen sich rund 200 von Ihnen zu einer Konferenz in Stralsund, die vom Bundesamt für Naturschutz organisiert wurde. Deren Fazit wurde in 52 detaillierten Aktions-Punkten zusammengefasst, die helfen könnten, trotz eines weiteren, sanften Ausbaus der Windenergie, die Artenvielfalt in Nord-und Ostsee zu erhalten.

Das generelle Fazit lautet:

  • Mehr Meeresschutzgebiete ausweisen in denen die Biodiversitätsstrategie der EU wirklich Anwendung findet, wobei 30% der Fläche unter Schutz und 10 % unter strengem Schutz stehen sollte (Null-Nutzung).
  • nur einen naturverträglichen Ausbau der Windenergie genehmigen und
  • dringend die Effekte der Fischerei auf das Meeresökosystem vermindern, wie etwa umweltschädliche Fangmethoden wie Grundschleppnetze langfristig in besonders sensiblen Gebieten zu verbieten

Was ist zu tun? Wer macht es?

Wenn auch sehr spät, haben  Naturschützer und Meereswissenschaftler nun ausreichend detaillierte Vorschläge und Forderungen auf den Tisch gelegt, um den Ausbau der Windkraft auf See in Deutschland in naturverträgliche Bahnen zu lenken. Angesichts der des gewaltigen Zeitdrucks, der seitens der Politik und verschiedener Interessengruppen zum Thema Klimaschutz aufgebaut wird ist jedoch kaum damit zu rechnen, dass diese noch rechtzeitig und voll umfassend umgesetzt werden.
Dabei ist es einfach unklug  und alles andere als nachhaltig, die Klimakrise gegen die Biodiversitätskrise auszuspielen. 

Wer aber wird die Forderungen umsetzen? In der Politik sieht es in dieser Hinsicht magerer denn je aus, seit die Grünen sich zur Speerspitze des technologischen Klimaschutzes erklärt haben. Viele hoffen auf die Grüne Umweltministerin Steffi Lemke, die der Meeresnatur stets verbunden war und seit je her eine den Meeresschutz stärkende Position vertritt – aber wird sie sich gegen den Klima- & Wirtschaftsminister Habeck aus der eigenen Partei durchsetzen können?

Einladung zu neuem Denken: AWZ wird MWZ

Ein erster symbolischer Schritt könnte die Umbenennung der „Ausschliesslichen Wirtschaftszone (AWZ)“ in „Marine Wildnis Zone (MWZ)“ sein. Manchmal können so kleine verbale Veränderung ein grundsätzliches Umdenken initiieren. Und genau das ist wohl nötig um aus dem Dilemma Klimaschutz versus Naturschutz herauszukommen. Es braucht ein neues Denken, einen  grundsätzlichen Systemwechsel der zu Energieeinsparung und breiter, landesweiter Diversifizierung alternativer Energien führt. Weg von Gigantomanie an einem Ort hin zu kleineren Lösungen überall. Denn frei nach Einstein können Probleme bekanntlich nicht mittels derselben Denkweisen gelöst werden, die diese Probleme ursprünglich entstehen liessen.

100 Jahre Naturschutz auf Sylt

Buch-Neuerscheinung der Naturschutzgemeinschaft Sylt

Das neue Buch, das die Umwelt-Historikerin Dr. Anna Katharina Wöbse im Auftrag der Naturschutzgemeinschaft Sylt e.V verfasst hat, ist ein längst überfälliges Werk. Niemand zuvor hat die spannende Geschichte des Naturschutzes auf der Insel in Buchform zusammengefasst. Möglicherweise, weil es wirklich viel Aufwand ist, sich durch umfangreichen staatlichen und privaten Archive zu kämpfen und das Wesentliche herauszufiltern und dann auch noch so zu formulieren, dass es mit Lust lesbar bleibt. Dr. Wöbse ist das meisterhaft gelungen! Sie war sicher auch prädesteniert für diese Aufgabe, denn sie hatte schon für ihr erstes Sylter Buch über die Umweltaktivistin Klara Enss viel in insularen Naturschutz-Archiven gestöbert. Zudem gelingt es Dr. Wöbse staubtrockene Archiv- und Amtstexte in lebendige Schilderungen zu verwandeln.

Am 22. März 1923, also vor rund einhundert Jahren, wurde das Listland und das Morsum Kliff samt Heidelandschaft als eine der ersten Naturschutzgebiete Deutschlands unter staatlichen Naturschutz gestellt. Ein Jahr später gründete der Sylter Arzt Knud Ahlborn mit einigen Gleichgesinnten den Verein Naturschutz Sylt e.V, der 1978 mit der Bürgerinitiative Sylt zur Naturschutzgemeinschaft Sylt fusionierte.
Wöbse belegt in der Neuerscheinung jedoch, dass die Anfänge des Schutzes von Sylter Natur viel früher begannen.

Rund 100 Jahre zuvor entdeckten Naturforscher des 19. Jahrhunderts den Seevogel-Reichtum der Insel. Zur damaligen Zeit waren diese Entdecker jedoch eher (Arten-) Sammler und Jäger, als echte Naturschützer. Dennoch fachten sie das steigende Interesse an, Landschaften zu bewahren, in denen eine artenreiche Vogelfauna zu Hause war. Sylt gehörte bald zu diesen Gebieten und zog Scharen von Vogelfreunden aus ganz Europa an. Ornithologie war damals in höheren Kreisen ein beliebtes Hobby und anerkannte Wissenschaft: Die ersten Vereine zum Schutz der Vögel gründeten sich in Europa. So an der deutschen Küste der Verein Jordsand, der sich 1910 als erster Verband auf dem Sylter Ellenbogen engagierte. Jordsand pachtete das Gebiet von den Listlandbesitzern, die in den Jahrzehnten zuvor einen Vogelschutz aus Eigennutz betrieben hatten. Sie bewachten die Brutkolonien des Listlandes und des Ellenbogens vor Feinden und Störungen, um eine gute Eierernte zu erzielen. Diese Nutzung wurde nachhaltig betrieben, um in den Folgejahren weiter von dem lukrativen Eiergeschäft zu profitieren.

In den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entwickelte sich zu dem Interesse die Seevögel zu schützen, allmählich immer mehr ein Auge für die Ästhetik der Insellandschaft, auch bedingt durch bildende Künstler, die die Insel als aussergewöhnliches Motiv entdeckten.

Spätestens mit der Ankündigung zur Errichtung eines Eisenbahndammes nach Sylt, erkannten die damaligen Akteure, wie Ferdinand Avenarius und Knud Ahlborn, die sehr gut in der namhaften Gesellschaft vernetzt waren und beste Beziehungen zu Ämtern pflegten, dass die Unterschutzstellung von Sylter Landschaftsteilen unumgänglich wurde. Sie ahnten, dass sich durch die Festlandsanbindung der sich bereits seit rund sechzig Jahren entwickelnde Tourismus (unterbrochen durch den 1. Weltkrieg) dramatisch beschleunigen würde. Zudem war das Morsum Kliff direkt durch die Bahndammbaustelle bedroht, denn zunächst war geplant, Kies und Sand für den Bau aus dem Kliff zu entnehmen.

Anna-Katarina Wöbse beschreibt in ihrem Buch sehr detailliert, was die Beweggründe, Entwicklungen und Hindernisse zur damaligen Zeit für engagierte Naturschützer wie Ahlborn waren. So gibt sie eine historische Perspektive, die bei kundigen Lesern durchaus Parallelen zum insularen Naturschutz der letzten Jahre wach rufen. „So viel anders war das (die Empörung, die Sisyphosarbeit und die Enttäuschung von Naturschützern) vor 100 Jahren gar nicht!“ könnte der Eindruck sein. Beispielsweise wurde jahrzehntelange Lobbyarbeit die 1922 zur Unterschutzstellung führte, schon wenige Jahre später durch das Naziregime wieder zunichte gemacht, das im zweiten Weltkrieg rücksichtslos sylter Natur militärisch platt machte. Nach dem Krieg mussten Aalborn und seine Mitstreiter erleben, wie ganze Teile aus den Schutzgebieten wieder herausgelöst und zur Bebauung frei gegeben wurden.
Als Naturhistorikerin lässt Wöbse aber auch nicht aus, dass nicht alles Gold war, was die Protagonisten des Naturschutzes machten und dachten.
So stellt sie unmissverständlich klar, dass die ersten Vogelkundler selbst arge Naturstörer und -vernichter sein konnten, oder das Knud Ahlborn mit seinem Projekt Klappholttal selbst deutlich in die Landschaftsästhetik, die er schützen wollte eingriff und sich auch nicht zu schade war, seine Naturschutzziele zeitweise mit Hilfe opportunistisch nationalistischer Anbiederei ans NS-Regime voran zu treiben.

Die Zeit der Naturschutzbemühungen bis in die 1970iger Jahre bilden den Schwerpunkt der historischen Betrachtung. Dann geht es recht zügig durch die folgenden Jahrzehnte. So bleibt beispielsweise unerläutert, wie es zur zweiten grossen Unterschutzstellung von sylter Landschaft Mitte der 1970iger Jahre kam und einen historischen Exkurs über die naturschutzpädagogische Entwicklung, die auf Sylt zu einer besonders hohen Dichte von Infozentren und Naturexkursionen mit Hunderttausenden von Besuchern führte, sucht der Leser vergebens.
Dieser Eindruck mag bei mir jedoch auch deshalb entstehen, weil ich selbst die letzten 35 Jahre Naturschutz auf Sylt miterlebt und mitgestaltet habe und daher manches an Schilderungen vermisse, was anderen Lesern gar nicht auffällt.
Dennoch hätte es meines Erachtens dem Werk, um der Vollständigkeit willen, gut getan, noch 20-30 Seiten mehr über die Zeit zwischen 1975 und heute zu ergänzen. Schliesslich wird es ewig dauern, bis die Naturschutzgeschichte weiter geschrieben wird. So vermisse ich ein ausführlicheres Kapitel zur Bedeutung des insularen Naturschutzes für die drei Meeressäugerarten der Insel, vor allem der daraus resultierenden Einrichtung des nur kurz erwähnten Walschutzgebietes, das heute einen wichtigen Schutzpuffer zur offenen Nordseeseite von Sylt bildet und beispielsweise Offshore-Industrie auf Abstand hält. Auch der „Naturschutzkampf“ um den Nationalpark Wattenmeer, um das NSG Hörnum Odde, das Sylter Aussen-Riff, und die neusten Entwicklungen, die von der BI Merret reicht´s thematisiert werden, sind meines Erachtens nicht hinreichend in das Werk eingegangen, wenn es den Anspruch verfolgt 100 Jahre Naturschutz auf Sylt abzubilden. Ein Ausblick in die Zukunft des insularen Naturschutzes wäre ebenfalls noch sehr anregend für Leser und vor allem zukünftige Natur-Schützer gewesen.

Alles in allem ein gelungenes, gut lesbares Werk, das seinen dauerhaften Platz in den Regalen Sylter Naturfreunde und ihrer Kritiker einnehmen wird.

Lothar Koch

Sylt- die fragile Schönheit.
100 Jahre Naturschutz

Eine Inselgeschichte
von Anna Katharina Wöbse
KJM Buchverlag GmbH & Co KG 2023
ISBN:978-3-96194-207-7
22,00 Euro


Requiem für ein Friesenhaus- Demo in List

Fast zwei Jahre dauern nun die intensiven insularen Diskussionen über die „Kipp-Punkte“ an, die Sylt endgültig zu entfremden drohen. Angestossen wurden die für Insulaner so entscheidenden Überlegungen von dem Bürgernetzwerk „Merret reicht´s“, das sich unter dem Eindruck der Corona-Lockdowns bildete, weil in jener Zeit die Folgeschäden des Massentourismus und des Investoren-Ausverkaufs gegenüber der „Lockdown-Stille und -Leere“ besonders kontrastreich deutlich wurden.

Diese Diskussionen wurden öffentlichkeitswirksam von den Massenmedien, wie zum Beispiel, Stern, Spiegel Zeit und TV weit über die Insel hinaus ins Land getragen, sodass selbst Bayern inzwischen wissen, was mit Syltrifizierung gemeint ist.
Umso schockierender, dass es dennoch immer noch sylter Unternehmer gibt, die die Dreistigkeit besitzen, so zu tun, als gäbe es die Sorgen nicht, die einen Verfall sylter Qualitäts-Werte befürchten. Dazu gehört die Unversehrtheit der Naturlandschaft, die Lebensqualität der Inulaner, aber auch der Erhalt historischer Bauwerke.

Am 31.12.2022 hat es den 200 Jahre alten Gasthof in List erwischt. Ohne Vorankündigung stand am letzten Tag des Jahres ein Bagger vor dessen Tür und begann mit dem Abbruch, der dann ungehindert vollzogen wurde. Erst danach stellte sich heraus, dass dieser Sylter Unternehmer vorsätzlich gesetzeswidrig Tatsachen schaffen wollte, denn im Neuen Jahr war eine Einschätzung seitens des archäologischen Landesamtes geplant gewesen, um zu beurteilen, ob das Gebäude unter Denkmalschutz gestellt werden müsse.
Diesem Ansinnen kam der Besitzer, ein sylter Abfall- und Gartenbaubetrieb, nun mit Brachialgewalt zuvor. Zwar erwartet ihn eine Ordnungsstrafe (von 50 000 Euro ist die Rede), aber solche Summen schrecken Investoren auf Sylt heutzutage nicht mehr ab, denn ein Neubau an gleicher Stelle wird mehrere Millionen wert sein.
Die entrüsteten Lister und viele Insulaner mit Ihnen rufen nun mit einem parteiübergreifenden Bündnis für den 8.1. um 15 Uhr zu einer Demo gegen diese Tat auf.

Liegt im Ruhe die Kraft um Sylt aus der Misere zu holen?

Der Wirtschaftsminister des Landes Schleswig-Holstein Claus Ruhe Madsen kam nach eigenem Bekunden als „Grillgut“ auf die Insel.  Eingeladen wurde er vom Bürgernetzwerk Merret reicht, dass sich gegen den „Ausverkauf“ der Insel stark macht (www.merret-sylt.de).
Doch die Insulaner hatten offenbar nicht den Willen, den Minister zu grillen. Vielmehr setzten sich einige Spasseinlagen, wie diese, sowohl von ministerieller Seite, als auch von Seiten der Moderatorin eine Zeitlang fort, sodass sich eher eine launige Atmosphäre à la 3Nach9-Talkshow , statt einer scharfen Podiumsdiskussion entwickelte. Natürlich ging Moderatorin Susanne Matthiesen auch gleich zum „Du“ gegenüber dem Minister über:“Dänen lassen sich gern duzen“, meinte sie und der Minister C.Ruhe nickte.
Bemerkenswert seine mit einem Augenzwinkern versehene Aussage: „Wenn ihr eine Königin hättet, wie wir Dänen, hättet ihr wohl nicht diese Probleme“. Ob diese subtile Anspielung mit dem Anspruch der Bürgerbeteiligung von Merret dauerhaft zu vereinbaren ist, bleibt abzuwarten, die noch durch die ministerielle Aussage unterfüttert wurde (sinngemäss): Wenn 10 Personen zu einer Besprechung zusammenkommen, hat man am Ende meist 11 Probleme.

Dennoch wurde es zu einem gewinnenden Abend für alle Seiten.

Es wurde gelacht, sogar gesungen, gestritten, diskutiert und viel zugehört. Auf der Bühne des Friesensaals zeigte sich eine tiefenentspannt-fröhliche Moderatorin, ein ähnlich entspannter Minister, eine erstklassig argumentierende Merret Vertreterin (Birte Wieda), einen beschlagenen Herrn Mantik (Gutachter Beherbergungskonzept) und ein erfahrenes Mitglied des politisch-wirtschaftlichen Establishments der Insel (Dehoga Vorsitzer Dirk Erdmann).

Der grösste Erfolg des Abends war wohl, dass es gelang, überhaupt so viele Sylter (der Friesensaal war mit knapp 250 Gäste proppenvoll) unterschiedlichster Couleur zusammenzuholen, um über die Zukunft Sylts zu reden.

Und wenn auch vieles offenblieb, eines ist nach diesem Abend klar: Das sogenannte Beherbergungskonzept, das Nein zu weiteren Ferienwohnungen, muss kommen. Wenn die Politik der Gemeinde Sylt (die nur den Anfang machen kann) hier ihren Worten keine konsequente Handlung folgen lässt, wird unser „System Sylt“ an die Wand gefahren.
Man darf gespannt sein!

Leider hatte der lustige Minister keine ernsthaften Gaben aus Kiel für die Sylter im Gepäck. Nun hofft das Bürgernetzwerk Merret, dass sich in Kürze weitere Gespräche zwischen Merret und Minister aus dieser Diskussion ergeben werden, die zu konkreten Lösungen führen.

Ausschnitt Foto: Sylter Rundschau
Text: L.Koch/S.v.Bremen

SYLTOPIA- die Insel-Utopie jetzt in der 4. Auflage wieder erhältlich!

Im Jahr der Lockdowns war die 3. Auflage gerade ausverkauft. So beliessen wir es für ein gutes Jahr damit.
Nun ist Syltopia wieder in allen Buchhandlungen erhältlich und natürlich direkt bei uns im Shop. Wir versenden portofrei!

Syltopia wird im Grunde immer aktueller. Die in dem utopischen Roman aus 2015 angerissenen Themen sind auf Sylt nur brandheisser geworden.
Es ist erstaunlich, was schon alles wahr geworden ist und bei Ersterscheinen noch Zukunftsmusik war. So wird es wohl weitergehen- bis 2050. Es sei denn, es kommt zur (R)Evolution auf der Insel.
Mehr zum Roman vom NaturReporter: www.syltopia.de.