Es wird ZEIT FÜR EINEN SYLT CHECK

Corona soll eine Veränderung im positiven Sinne bewirken, wünschen sich Viele auch auf Sylt. Insofern ist es begrüssenswert, wenn jetzt UnternehmerInnen mit neuen Ideen in die Öffentlichkeit treten. Allerdings muss genau geschaut werden, ob damit lediglich neue Umsatzmöglichkeiten für einzelne Privatleute geschaffen werden, oder ob die Ideen der Insel, dem Gemeinwohl und der Nachhaltigkeit dienen, kurz: syltverträglich sind.
In den letzten Tagen kamen zwei solcher Ideen auf den „Markt“, die es nun zu prüfen gilt. Ein Autokino als Dauereinrichtung, bis es zu kalt wird auf dem Parkplatz Oase zur Sonne/Westerland (Diehle & Osterhage) und eine Expeditionskreuzfahrt mit einem echten Eisbrecher durch den Nationalpark Wattenmeer mit Anlandung in List. (Adler Reederei)

Leider muss die Prüfung im Nachhinein erfolgen, denn genehmigt sind sie von Verwaltungsstellen bereits. Das sollte jedoch nicht daran hindern, dass diese Projekt einem „Sylt-Check“ unterzogen werden. Dafür gibt es ein gleichnamiges Instrument, das die Natur- und Heimatverbände zu Jahresbeginn vorstellten. Ein Raster, mit dem insulare Projekte auf ihre Syltverträglichkeit geprüft werden können. (s. hier).

Hier schon einmal die Analyse des NaturReporters vorweg, bevor sich ein Gremium der Verbände mit dem Punktesystem an die Arbeit macht.

Zur Idee Auto-Kino Sylt

Naturschutzargumente gegen das Vorhaben fallen weitgehend flach, da die Untere Naturschutzbehörde des Kreises bereits zugestimmt hat. Der Parkplatz gehört dem ISTS, die umgebende Dünenlandschaft ist kein Naturschutzgebiet, Arten werden angeblich nicht gefährdet. Es bleibt nur die Lichtverschmutzung, ob dadurch Insekten gefährdet wären, wäre eine berechtigte Frage.

– Nachhaltigkeitsfrage Landschaftsschutz: Für das Projekt wird keine Infrastruktur geschaffen, die nicht jederzeit wieder abgebaut werden kann. Offenbar wird die aufblasbare Leinwand nur zur Veranstaltung hochgezogen. Ton läuft über Radio. Dennoch wird für einen Zeitraum der Aufführung, und das über Wochen, Unruhe und Beleuchtung an einem Ort herrschen, der sonst zu der Tages- & Nachtzeit in Stille liegt.

-Nachhaltigkeit im ökonomisch/sozialen Sinn: Durch das Angebot könnte das bestehende Kino in Westerland ökonomisch leiden. Eine Insolvenz würde zum Wegfall des Kinoangebotes für Einheimische und Gäste im gesamten Jahresverlauf führen. Das wäre nicht hinnehmbar.

– Nachhaltigkeit hinsichtlich Mobilität/Klimaschutz: Durch ein Autokino wird ein weiterer Anreiz geschaffen, das Auto nach Sylt mitzubringen, bzw. das Auto in Bewegung zu setzen. Damit kontakariert so ein Angebot den derzeitigen Wunsch vieler Interessengruppen und Parteien für immer weniger Auoverkehr zu sorgen.

Nachhaltigleit hinsichtlich insularem Image/Syltverträglichkeit: Es wird ein völlig neuer Eventplatz aufgemacht. Es ist nicht auszuschliessen, dass über einen solchen Präzedenzfall, am selben Ort bald weitere Begehrlichkeiten entstehen, oder auch weitere Orte in der Richtung aufgemacht werden. Sylt wird immer mehr zu einem grossen unruhigen Eventpark. Das drängt das Image weiter weg von dem Wunschbild „Insel der Natur, der Elemente, der Ruhe und des heilsamen Genusses“.

– Political Correctness: In der derzeitigen Diskussionslage auf der Insel, ist es ein Unding, dass solche ein Projekt von den Betreibern und ISTS/Gemeinde still und heimlich beantragt und genehmigt wird, ohne vorher die breitere Diskussion zu suchen.

Was tun?

Was wäre mit der Alternative „Eventplatz bei Halle 28″oder Brandenburger Platz für ein Autokino herzurichten, um die Idee nicht völlig abzublocken?

Wenn nicht verhinderbar: Rahmenbedingungen festsetzen: keine Gastronomie (Foodtrucks o.ä.) erlauben. Motor darf während der Veranstaltung nicht laufen, etc..

oder etwas für Nachhaltigkeit rausholen: Es dürfen nur E-mobile Gäste Kino gucken- dafür gibt es Ladesäulen auf den Parkplatz Oase.

Parkplatz Oase wird zum Dauerabstellplatz für Gästeautos nach dem Prinzip Norderney (mit dem Auto anreisen Ja, aber während des Urlaubs stehen lassen). Je länger du stehst, umso günstiger/kostenfrei wird das Parken. Als Zuckerl kannst Du in deinen drei Wochen dort Autokino gucken.

Idee Expedionskreuzfahrt durch den Nationalpark Wattenmeer

Betrachtet wird nur die Sylt Perspektive, nicht die Reststrecke im Nationalpark, die vermutlich sogar sensibler ist.

Umweltschutz: Der „Eisbrecher“ ist sicherlich eines der grössten Schiffe die in List anlegen. Entsprechend dürfte der Treibstoff der umweltschädlichen Norm entsprechen. Der Betreiber hat angekündigt, den CO2 Verbrauch zu kompensieren. Das hält die Luftverschmutzung vor Ort aber nicht auf.

Naturschutz/Soziales: Die Anzahl von knapp 50 Gästen, die sich aus dem Kreuzfahrer ergiessen ist angesichts der Massen im Lister Hafen zu vernachlässigen. Die Gäste werden von Guides intensiv zur Wattenökologie informiert.
Kritisch könnte der Einsatz von Schlauchbooten sein, wenn Seehundbänke u.ä. Rastplätze angefahren werden sollten. Auf Sylt sollen Museen und Naturschutzeinrichtungen besucht werden.

Insgesamt ist aus sylter Perspektive gegen diese Art von Kreuzfahrt in dieser Dimension wohl nichts einzuwenden. Es darf dadurch aber kein Präzedenzfall für grössere Kreuzfahrer mit viel mehr Gästen geschaffen werden. Für den Einsatz von Zodiaks müssen durch die Nationalparkverwaltung strenge Rahmenbedingungen zum Schutz der Wildtiere geschaffen werden.
Wünschenswert wäre es, wenn die Adler Reederei im Gegenzug eher störende und unpassende Veranstaltungen im Naturerbe Wattenmeer einstellen würde, wie beispielsweise die Disko-Fahrt ins Watt, die mehrmals pro Saison stattfindet.

Lothar Koch

Wieviele Betten, wieviele Menschen sind täglich auf Sylt? Ruf nach präziser Statistik wird lauter.

Noch ein Gutes hat die Coronakrise: wir haben uns alle, mehr als zuvor, mit Statistiken beschäftigt. 

Dazu haben wir von Lothar Wieler aus dem Robert Koch Institut einiges  gelernt: Man muss nicht alles so genau nehmen und kann auch mal Äpfel mit Birnen vergleichen- dann kann Statistik Jede/r.

Ich habe gleich mal mein Glück mit der Sylter Gäste- und Bettenstatistik versucht.

Also… von der EVS, dem  Haupt- Wasserversorger der Insel, haben wir aus dem März 2018 folgende Aussage gegenüber der Naturschutzgemeinschaft Sylt zum insularen Wasserverbrauch an Spitzentagen vorliegen: Man schätze damals die Zahl der Sylter Verbraucher für Tage, wenn die Insel knallvoll ist, auf  auf rund 230 000 Menschen (207500 allein von EVS gemessen, Rest geschätzt für den Bereich der Norddörfer VEN).

Brutal! Dabei hatte doch die Landesregierung in den Siebziger Jahren schon die Kapazitätsgrenze der Insel auf 100 000 Menschen beziffert!

Die Veröffentlichung dieser ungeheure Zahl hat dann wohl die amtlichen Wasserableser bzw. gewisse Interessengruppen auf der Insel  so umgehauen, dass die EVS  flugs einen Rückzieher machte und zum Jahreswechsel 2019  ihre Aussage auf bummelig 132000 Verbraucher (ohne VEN) runterschraubte.

Jetzt beginnt die Statistik spannend zu werden.

Einigen wir uns, mangels verlässlicher Angaben der gemeindeeigenen EVS, auf den Mittelweg von über den Daumen gepeilt 150 000 Verbrauchern/Tag.

Ziehen wir nun von der mutmasslichen Verbraucherzahl diejenigen ab, die wohl kaum auf Sylt in Gästebetten übernachten: Rund 4000 Pendler und geschätzt 5000 Tagesgäste, 17 000 Einwohner und ca. 15 000 Zweitwohnsitzer. Sind zusammen 41000 Menschen, die nicht in Fremdenbetten übernachten und daher von der Bettenstatistik abgezogen werden könnten (da sind in der Rechnung viele Unbekannte, denn wer weiss schon, ausser der EVS und VEN, vielviel Wasser Pendler und Tagesgäste verbrauchen?).Es bleiben mindestens 109000  Menschen, die als echte Feriengäste an Spitzentagen gleichzeitig auf der Insel sein müssten.

Nun haben wir aber nur 62 000 Fremdenbetten, so die offizielle Zahl der Sylt Marketing Agentur. Aber Hallo! Das würde ja bedeuten, dass in fast jedem Fremdenbett zwei Leute zu liegen kämen, wenn alle einen Schlafplatz haben wollten.

Die Wahrscheinlichkeit, dass doch weit mehr Betten existieren ist nicht gering und würde heissen, dass den Gemeinden viel Einnahmen entgehen, da doch die Kurtaxe quasi pro Bett erhoben wird.

Um diese Berechnung mit sicheren Daten und Fakten durchzuführen, braucht es wohl endlich eine gute, ehrliche Recherche seitens aller Inselgemeinden. Die Gelegenheit ist günstig, da wir ja Corona-bedingt, gerade die verschiedenen Gruppen (Pendler, Zweitwohnungsbesitzer, Tagesgäste, Restgäste) schön säuberlich getrennt haben einreisen lassen. Das müsste ja jetzt ziemlich genau am Wasserverbrauch ablesbar sein. Schliesslich geht nichts über eine gesicherte Datengrundlage, wenn man die wirtschaftlichen und ökologischen Probleme in Zukunft wuppen will, die eine Pandemie und ein Klimawandel mit sich bringen.

Lothar Koch

(nein, nicht vom Robert Wieler Institut)

Lange überfällig, jetzt in Kraft: Managementpläne für die deutsche Nordsee

Maßnahmen zum Schutz von Walen, Seevögeln, Sandbänken und Riffen verabschiedet 
Managementpläne für Meeresschutzgebiete in der deutschen Nordsee treten in Kraft

Die Umsetzung von Maßnahmen zum Schutz und zur Wiederherstellung von Arten und Lebensräumen in den Offshore-Gebieten der Nordsee kann beginnen. Dabei handelt es sich um die Gewässer jenseits der 12 Seemeilenzone. Die dafür notwendigen Managementpläne für drei Meeresnaturschutzgebiete in der ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) der Nordsee sind in Kraft getreten und seit heute unter www.bfn.de abrufbar. Insgesamt umfassen Doggerbank, Borkum Riffgrund und Sylter Außenriff eine Fläche von über 7.900 km² und damit 24 Prozent der AWZ der Nordsee. Mit 5.600 km² ist das Sylter Außenriff sogar das größte deutsche Naturschutzgebiet.

Bundesumweltministerin Svenja Schulze: „Das ist ein wichtiger Fortschritt für den Schutz der Meeresnatur in der Nordsee. Gemeinsam mit allen Akteuren können wir nun konkrete Schutzmaßnahmen umsetzen. Die Nordsee wird intensiv wirtschaftlich genutzt. Umso mehr braucht sie unseren Schutz. Mit den Managementplänen wollen wir sicherstellen, dass die Naturschutzgebiete der Nordsee auch tatsächlich Orte sind, an denen sich unsere Meeresnatur vom Seehund bis zum Schweinswal so gut wie möglich entwickeln kann.“

Nordseeschutz war in den 1990iger Jahren das Topthema an der Küste: 1995 Protest der deutschen Umweltverbände und der Küsten- Kreise für den Nordseeschutz mittels der Aktion „Rote Karte“.

BfN-Präsidentin Prof. Dr. Beate Jessel: „Die Maßnahmen der Managementpläne wurden auf der Grundlage umfangreicher Datenanalysen entwickelt und umfassen insgesamt sieben Bereiche. Darunter sind Maßnahmen zum Wiederaufbau von Riffen der europäischen Auster, aber auch von Steinriffen, zur Reduzierung von Schadstoffeinträgen und dem Umgang mit Abfall und Kampfmittelaltlasten. Auch der Unterwasserlärm soll deutlich reduziert werden, um vor allem die Schweinswale zu schützen. Zusätzlich bauen wir das Meeresmonitoring und die Überwachung der Meeresschutzgebiete aus. Bei der Umsetzung werden die weiteren zuständigen Behörden und Institutionen sowie die Verbände eingebunden“.

Die Zuständigkeit des Bundes erstreckt sich auf die sogenannte ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) Deutschlands, die sich an das 12 Seemeilen breite deutsche Küstenmeer anschließt. Für das Management der Meeresschutzgebiete in der AWZ ist das Bundesamt für Naturschutz (BfN) verantwortlich. Das BfN hat die Gebietsmanagementpläne seit 2017 in engem Austausch mit der Öffentlichkeit, den zuständigen Behörden und Interessenverbänden erarbeitet. Das Bundesumweltministerium hat die Vorschläge unter anderem mit dem Bundesverkehrs-, dem Bundeslandwirtschafts- und dem Bundeswirtschaftsministerium abgestimmt. Die Umsetzung der Managementpläne beginnt bereits in den kommenden Monaten mit der Installation eines Austern-Pilotriffes auf dem Borkum Riffgrund in Zusammenarbeit mit dem Alfred-Wegner-Institut für Meeresforschung.

In einem „Natura 2000-Schutzgebiet“ im Meer sind nicht grundsätzlich alle menschlichen Aktivitäten verboten, sondern müssen so stattfinden, dass die geschützten Pflanzen und Tiere im Gebiet sich positiv entwickeln und prosperieren können. Deshalb sind bestimmte menschliche Aktivitäten wie etwa die Aquakultur in den Naturschutzgebieten ausgeschlossen. Andere Vorhaben, die potenziell negative Auswirkungen auf die marine Umwelt haben können, werden vor ihrer Genehmigung oder auch Ablehnung einer strengen Prüfung unterzogen. Die veröffentlichten Managementpläne ergänzen die bisher schon geltenden gesetzlichen Regelungen durch konkrete Schutzmaßnahmen und unterstützen damit die positive Entwicklung der Meeresschutzgebiete.

Die Regelung der Berufsfischerei findet demgegenüber im Rahmen der europäischen Gemeinsamen Fischereipolitik statt und wird nur nachrichtlich in die Pläne aufgenommen. Auch die Freizeitfischerei ist außerhalb der Gebietsmanagementpläne geregelt, nämlich in den Schutzgebietsverordnungen.

Auch für die küstenfernen Meeresschutzgebiete in der deutschen Ostsee hat das BfN bereits Managementpläne entworfen. Für diese beginnt demnächst das Beteiligungsverfahren mit den zuständigen Behörden des Bundes und der Länder sowie der interessierten Öffentlichkeit.

Hintergrund

Für die Umsetzung des europäischen Schutzgebietsnetzwerks Natura 2000 an Land und in den Hoheitsgewässern innerhalb der 12-Seemeilen-Zone sind in Deutschland die Bundesländer zuständig. Im Bereich der ausschließlichen Wirtschaftszone Deutschlands (AWZ) ist hingegen der Bund, vertreten durch das BfN und das BMU für Natura 2000 verantwortlich.

Die Mitgliedstaaten der europäischen Union verständigten sich bereits 1978 für alle europäischen Vogelarten (Vogelschutz-Richtlinie) und im Jahr 1992 für die besonders gefährdeten europäischen Lebensräume und Arten (FFH-RL) auf umfangreiche gesetzliche Schutzmaßnahmen und die Einrichtung eines Netzwerkes von sogenannten Natura 2000-Schutzgebieten. Dieser Schutz der europäischen Biodiversität gilt an Land und im Meer. Ausschlaggebend für die Auswahl der Natura 2000-Gebiete im Meer sind das Vorkommen und die Verbreitung spezieller Arten der Seevögel, Meeressäugetiere und Fische sowie der besonders schützenswerten, international bedeutsamen Lebensraumtypen „Sandbänke“ und „Riffe“. Ziel der Ausweisung ist der Schutz dieser besonderen und gefährdeten Lebensräume und Arten.

Deutschland war für die Umsetzung im Meer ein europäischer Vorreiter und konnte bereits bis 2004 bedeutende Teile der Nord- und Ostsee für Natura 2000 nominieren, die dann 2008 auch von der EU-Kommission anerkannt wurden. Diese Gebiete umfassen ca. 43 Prozent des etwa 41.000 km² großen Anteils Deutschlands an der Nordsee.

Im September 2017 wurden die insgesamt zehn Gebiete durch sechs Schutzgebietsverordnungen national unter Schutz gestellt. Seitdem sind die sechs Meeresnaturschutzgebiete „Doggerbank“, „Borkum Riffgrund“ und „Sylter Außenriff – Östliche Deutsche Bucht“ in der Nordsee sowie „Fehmarnbelt“, „Kadetrinne“ und „Pommersche Bucht – Rönnebank“ in der Ostsee auch nach nationalen Vorschriften rechtlich gesichert.

Die Managementpläne für die Meeresnaturschutzgebiete in der ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) der Nordsee finden Sie unter:https://www.bfn.de/themen/meeresnaturschutz/nationale-meeresschutzgebiete/management/managementplaene.html

Eine Pressemitteilung des Bundesamtes für Naturschutz und des Bundesministeriums für Umwelt

Nationalpark-Feeling auf Sylt- echte Lebensqualität pur!

In den Wochen des „Shut Downs“ zeigt sich die Insel das erste Mal zu meinen Lebzeiten so, wie sie uns sonst nur in Werbeprospekten und Internetseiten von Touristikern, Naturfilmern und Landschaftsfotografen schmackhaft gemacht wird: Natur pur. 

Pfuhlschnepfen am Rantum Becken, Foto: Dr. Thomas Luther

Fotografen müssen sonst normalerweise gegen 5:00 Uhr auf die Pirsch gehen, um Bilder einer makellosen Landschaft zu schiessen. Nur wenige Stunden später wird die Insel ja sonst von Menschen geflutet. Wer jetzt auf Sylt ausgedehnte Spaziergänge unternimmt, was gottlob, anders als in Spanien und vielen anderen Ländern gestattet ist, kann auf einer tieferen Ebene begreifen, weshalb Sylt als Insel im Welterbe Wattenmeer bezeichnet wird, ja eigentlich selbst den Rang eines Nationalparks haben könnte.

Und ich meine nicht nur die endlos wirkenden, einsamen sylter Strände, die majestätisch still daliegende Dünenlandschaft und die Weite des Meeres.

Nonnengänse, Foto: Dr. Thomas Luther

Das Nationalpark – Feeling kommt derzeit im April am ehesten rund um das Rantum Becken auf. Zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort fliegen mir hier derzeit 70 000 Knutts und Pfuhlschnepfen förmlich um die Ohren. Ich stehe auf dem Rantum Beckendeich bei nahezu Windstille und einer österlichen Frühlingssonne, die schon so stark ist, dass sie mein Gesicht bräunt. Beim Blick über die Schilfflächen sind die rastenden Watvögel, die gerade von den Atllantikküsten Westeuropas eingetroffen sind, leicht zu übersehen. Erst bei genauerem Beobachten fällt mir auf, dass sich die vermeintliche Landzunge bewegt. Ein Blick durch das Fernglas schafft Klarheit. Die „Landzunge“ besteht in Wirklichkeit aus einem geschlossenen Teppich kleiner Wattvögel in graubraunem Gefieder, die dichtgedrängt eine vibrierende Fläche im Sonnenlicht bilden. Knutts und Pfulschnepfen machen die Masse aus, aber auch Alpenstrandläufer und Kiebitzrgenpfeifer sind darunter. Sie gehören zu den „Schwarmvögeln“, die zweimal im Jahr für einige Wochen im Wattenmeer Station machen, um sich „Treibstoff“ für die Non-Stop Weiterreise nach Grönland und Kanada oder Sibirien und zurück anzufressen. Ein Kaninchen rast aufgeschreckt nahe der Rastvögel durchs Gras. Augenblicklich erhebt sich die gesamte „Landzunge“ und verwandelt sich in eine „Luftqualle“. Zigtausende steigen gleichzeitig auf. Ich höre ein Rauschen, ähnlich einer Windboe, die durch einen Wald weht. Quallenartig bewegt sich die Formation in akrobatischen Luftnummern. Dabei changiert im Sonnenlicht die Farbe zwischen grellweiss und braun und grau, je nachdem, welche Körperseite die Vögel im Schwarm gerade zeigen.
Nach einigen Runden fliegen sie eine Kehrtwende genau auf mich zu. In fast greifbarer Nähe fliegen Tausende der Tiere über meinen Kopf hinweg und wechseln auf die Wattseite. Dort lassen sie sich auf der Spitze einer kleinen, hellen Sandbank nieder und bilden erneut eine tierische „Landzunge“. Die würden die  meisten Wanderer und Radfahrer wohl übersehen, wenn sie den Radweg am Deichfuss, nahe der Sandinsel entlanggingen oder -führen. Aber da geht oder fährt gar keiner. Ich bin ganz allein, mitten im „Nationalpark Sylt“, mitten unter Zig-Tausenden von Wildtieren, die in ihrer eigenen Welt leben, ihre eigene, von Ebbe und Flut geprägte Agenda haben: Fliegen, rasten, fressen, fliegen, rasten, fressen. Immer in engem sozialen Verband, immer im Gleichklang. Ich überlege, wie wird „social distancing“ wohl auf lange Sicht unsere Gesellschaft verändern? Wird sich wieder alles normalisieren? Eine Tagesschausprecherin hat gestern gesagt, der Handschlag, den wir uns gaben, wird wohl für immer aus unserem Repertoire der Höflichkeiten verschwinden. Und was ist mit Umarmungen von guten Freunden? Kann das der richtige Weg sein- müssen wir uns wirklich dauerhaft dem Diktat von Viren und Hygienikern beugen?

Nonnengänse im Nössekoog, Foto: Dr. Thomas Luther


Ich radle auf dem Beckendamm weiter nach Norden und hinter dem Deichkreuz über den Nössedeich in die Tinnumer Wiesen. Noch bevor meine Augen etwas wahrnehmen, haben meine Ohren schon die Masse an Vögeln bestimmt, die sich mit Rottrottrott ankündigen und auf den grünen Wiesen hinter dem Deich rasten und äsen: Nonnengänse! Die schwarz-weissen Vögel mit den langen Hälsen und den weissen Wangen sind selten in derart grossen Schwärmen wie derzeit auf den Wiesen zu beobachten. Und es kommen immer mehr. Von Südosten schwärmen sie am laufenden Band ein und zeichnen dunkle Pfeile gegen den strahlend blauen Osterhimmel. Sie kommen jetzt von den britischen und französischen Küsten, wo sie die kalte Jahreszeit verbringen und werden Ende Mai in Richtung Sibirien weiter ziehen. Sie reisen dann gemeinsam mit ihren Vettern und Cousinen, den dunkelbäuchigen Ringelgänsen, die jedoch ihre pflanzliche Nahrung nicht binnendeichss, sondern auf den Schlickflächen und Salzwiesen des Nationalparks suchen. 

Während der Airport Sylt stillgelegt ist, herrscht also reger Flugbetrieb in den Tinnumer Wiesen. Im Vergleich zu den Watvögeln des Rantumbeckens wirken die Gänse jedoch wir Airbusse- und die noch grösseren Graugänse wie Jumbo-Jets. Vereinzelt sind auch die seltenen Uferschnepfen auf den Wiesen zu beobachten. Früher ein „Allerweltsvogel“, stehen sie heute auf der Roten Liste. Leider fehlt von den Kampfläufern, die noch bis zur Jahrtausendwende zu dieser Zeit im Nössekoog ihr spektakuläres Balzspiel vorführten jede Spur. Sie scheinen hier ausgestorben zu sein. Wesentliche Gründe liegen wohl an Biotopschwund, Raubwildvermehrung und Stördruck durch Wanderer und Fahrzeuge. Die Wiesenvögel brauchen triefnasse Wiesen, Bereiche wo kein Fuchs ihre Gelege findet und haben  alle eine grosse Fluchtdistanz. Vielleicht ist das Geschenk der Ruhe in diesem Frühjahr eine Unterstützung für diese Arten, die sonst permanent von freilaufenden Hunden, rasenden Autos und lärmenden Radfahrern aufgeschreckt werden. Auf jedenfall sind sie auf den Fennen viel zutraulicher, als zu Normalzeiten.

Die Ruhe ist wirklich paradiesisch, trotz, oder gerade wegen des Rotrottrotts, des Gefiepes und Gezwitschers.
So dürfte es auf Sylt immer sein. Aber was ist mit den Menschen? Die leben hier fast alle vom Tourismus. Ja, aber was ist mit Lebensqualität? Wir sollten intelligente Lösungen finden; einen Neustart nach der Krise hinlegen, der nicht panikbestimmt Corona-Löcher in den Kassen füllen will, sondern sich auch auf das Wesentliche besinnt. Natürlich muss es für uns alle ausreichend Möglichkeiten geben mehr als nur die Existenz zu sichern, deswegen wünscht sich niemand eine leere Insel. Aber Glücksforscher haben bewiesen, dass der Kontostand ab einer gewissen Grundsicherung nichts mehr mit dem inneren Glücksgefühl und Wohlbefinden zu tun hat. Vielleicht haben dass ja eine ganze Menge Insulaner in diesen Wochen gespürt? Was würde uns persönlich und als Inselgesellschaft denn reichen? Das könnte eine interessantere Frage sein als „Wieviel Gewinn können wir denn noch machen?“.

Uferschnepfe in den Morsmer Wiesen, Foto: Dr. Thomas Luther

Ach ja! Und dann war ja noch das Ding mit dem Klimawandel- eine Herausforderung, die schon hinter der nächsten Ecke wartet.

Text: Lothar Koch, Biologe & Autor
Fotos: Dr. Thomas Luther

Mit dem NaturReporter Sylt auf Nordtour

Die Insel kommt im Februar kalt und stürmisch rüber. Dennoch hat sich vorige Woche ein TV Team des NDR auf den Weg gemacht um einen Beitrag mit dem NaturReporter auf Sylt zu drehen: