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Nationalparkthemenjahr „Muscheln und Schnecken“ Folge 5: Tier des Monats Dezember: Die Europäische Auster

Im Jahre 1890 schrieb Karl May:„Wie könnte die Bewohnerschaft Londons jährlich 110 Millionen Austern essen, wenn diese Muschel nicht so eine ungeheure Vermehrungsfähigkeit besäße?“ Leider irrte der Erfinder von Winnetou, und es erging der Europäischen Auster (Ostrea edulis) in der Nordsee wie den Bisons der amerikanischen Prärie: Die gnadenlose Übernutzung führte die einst massenhaft vorkommende Art an den Rand des Aussterbens. Im Eiswinter 1929 erfroren die letzten Austern im Wattenmeer und die Wiederbesiedlung blieb aus, weil die riesigen Austernbestände in der tieferen Nordsee zwischen Helgoland und Doggerbank abgefischt waren. Die Art überlebte an den Felsküsten Westeuropas und Südnorwegens sowie im dänischen Limfjord.

Europäische Auster im Limfjord FOTO: RAINER BORCHERDING

Als Ersatz für die Europäische Auster experimentierten Muschelzüchter mit Austernarten aus aller Welt. Durch die unkontrollierten Importe von Austern kam um 1978 die kalifornische Austernkrankheit Bonamia nach Europa und brachte für die Restbestände der heimischen Auster den Zusammenbruch um weitere 90 Prozent. Wenn die Austern mit drei Jahren erstmals Eier legen, führt diese Anstrengung bei mit Bonamia infizierten Muscheln zum Tod. Natürlicherweise kann unsere Auster bis zu 40 Jahre alt werden und produziert pro Jahr knapp eine Million Larven. Diese schwimmen etwa zehn Tage im Meer umher und siedeln sich auf Kalk, am liebsten auf den Schalen anderer Austern an. Die Larve gibt einen winzigen Zementklecks auf die Unterlage, lässt sich mit der linken Schale hineinfallen und bleibt für den Rest ihres Lebens an diesem Ort. Die Auster filtriert Plankton wie die meisten Muscheln, wobei sie auch sehr kleine Partikel wie Bakterien, Rädertierchen und winzige Algenzellen als Nahrung nutzen kann. Auf der Außenseite der Austernschale siedelt eine Vielzahl anderer Meerestiere: Seepocken, Blumentiere, Schwämme und Polypenstöcke. An den damals enorm artenreichen Austernbänken bei Sylt entwickelte Karl Möbius daher um 1860 den Begriff der Biozönose, der Lebensgemeinschaft von Arten mit vielfältigen Beziehungen untereinander. 

Um die Artenvielfalt der Austernbänke wieder in die Deutsche Bucht zurückzuholen, führt das Bundesamt für Naturschutz zusammen mit dem AWI Helgoland ein Wiederansiedlungsprojekt für die Europäische Auster durch. Auf Helgoland wird seit 2017 eine nicht mit Bonamia infizierte Austernzucht aufgebaut. 2018 haben die Jungaustern sich sehr gut entwickelt, so dass in den kommenden Jahren die ersten Auswilderungen in Offshore-Windparks der deutschen Nordsee erfolgen können. Dort sind die Austern vor Grundschleppnetzen geschützt und können hoffentlich neue Bänke bilden. Parallel findet auch in den Niederlanden eine Wiederansiedlung statt, dort allerdings mit aus Norwegen gekauften erwachsenen Austern. Wenn die Wiederansiedlung klappt, werden wir vielleicht in zehn Jahren die Europäische Auster wieder im Wattenmeer antreffen können –100 Jahre nach ihrem Verschwinden durch Überfischung.

Rainer Borcherding, Schutzstation Wattenmeer

Nationalparkthemenjahr „Muscheln und Schnecken“ 

100.000 Muschelarten gibt es auf der ganzen Welt, nur 15 davon im Nationalpark Wattenmeer. Trotzdem spielen die Weichtiere mit der harten Schale eine zentrale Rolle in diesem Ökosystem. Ihre wöchentliche Filterleistung entspricht dem gesamten Wasservolumen des Wattenmeeres, sie sind also eine große biologische Kläranlage. Anlässlich des Themenjahres „Muscheln und Schnecken“ berichtet Biologe Rainer Borcherding monatlich über die Welt der Weichtiere im Nationalpark Wattenmeer.