Sind Pottwalstrandungen eine Spätfolge der Waljagd?
Die Schutzstation Wattenmeer entdeckt wenig diskutierte Erklärungsversuche für Pottwalstrandungen in der wissenschaftlichen Literatur:
Walpopulation leidet möglicherweise an kollektivem Orientierungsverlust mangels Lernmöglichkeiten von der Elterngeneration:
Bis heute ist unklar, warum es in unregelmäßiger Folge zu Strandungen von Pottwalgruppen an der Nordseeküste kommt. In den vergangenen Tagen waren erneut 10 Jungbullen vor der Küste Schleswig-Holsteins beim Kaiser-Wilhelm-Koog und vor Eiderstedt verendet und liessen die Statistik des Winters nordseeweit auf 27 Totfunde hochschnellen.
Der Biologe Rainer Borcherding von der Schutzstation Wattenmeer stieß in der wissenschaftlichen Literatur auf eine mögliche Erklärung: „Pottwale sind überaus gesellige und langlebige Tiere. Die Walfänger haben bis 1980 fast alle Leitbullen weggeschossen. Es ist gut möglich, dass die Tiere immer noch an einem kollektiven Orientierungsverlust leiden.“ Die Art müsse erst wieder neu lernen, dass es keine gute Idee sei, in flache Küstengewässer wie die Nordsee zu schwimmen. „Die heutigen Massenstrandungen sind möglicherweise eine Spätfolge der Waljagd“, vermutet der Husumer Biologe.
Pottwale können über 60 Jahre alt werden. In die Nordsee kommen nur männliche Pottwale, da nur sie zum Beutefang bis in polare Gewässer ziehen. Pottwalbullen schwimmen in Gruppen durch die Weltmeere, bis sie 25 oder 30 Jahre alt sind. „Bei Strandungen zeigt sich immer wieder, dass die Tiere sehr anhänglich sind und oft lieber gemeinsam sterben, als sich einzeln retten zu lassen“, sagt Borcherding. Daher sei es naheliegend, dass Pottwalbullen, wenn sie über 20 Jahre lang in Gruppen auf Wanderschaft seien, von ihren älteren Artgenossen nicht nur etwas über die Nahrungsbeschaffung lernen, sondern auch, auf welchem Weg man sicher von der Arktis zurück zu den Azoren findet, ohne zu stranden.
Britische Forscher haben die Meldungen von Pottwalstrandungen der vergangenen Jahrhunderte verglichen und herausgefunden, dass nach 1960 an den britischen Küsten eine drastische Veränderung eingetreten ist: Ab 1800 strandeten bis zum Jahr 1960 immer nur einzelne alte Bullen, im Mittel etwa einer pro Jahr. Nach 1960 stieg die Strandungsrate auf das Siebenfache an. Außerdem strandeten nun vor allem Gruppen von jüngeren Tieren, was zuvor niemals beobachtet worden war. „Diese Veränderung fällt mit der Periode des industriellen Walfangs zusammen“, erläutert Borcherding. Von 1950 bis 1980 seien weltweit etwa zwei Drittel aller Pottwale abgeschlachtet worden, gezielt vor allem die großen Bullen.
„Durch die Tötung praktisch aller älteren Leittiere haben die Pottwale möglicherweise ihr gesammeltes Wissen über traditionelle und ungefährliche Wanderrouten verloren“, vermutet Borcherding. Selbst die ältesten heute lebenden Pottwalbullen hätten vor 30 Jahren, als sie in der Lernphase gewesen seien, ihre Leittiere verloren. „Die überlebende Population muss nun ‚auf die harte Tour‘ neu herausfinden, dass es lebensgefährlich ist, in flache Küstengewässer wie die Nordsee hineinzuschwimmen“, folgert der Biologe. Unterwasserlärm, Umweltgifte und Fischnetze machen den Walen diesen schmerzhaften Prozess sicher nicht leichter.
Quellen:
EVANS, P.G.H. (1997): Ecology of sperm whales (Physeter macrocephalus) in the Eastern North Atlantic, with special reference to sightings & stranding records from the British Isles. Bull.Inst.Sci.Nat.Belg., Biologie, Suppl. 67: 37-46. Brussels.
WHITEHEAD, H. et al. (1997): Past and Distant Whaling and the Rapid Decline of Sperm Whales off the Galápagos Islands. Conservation Biology 11:1387-1396.
Mitteilung der Schutzstation Wattenmeer e.V.